Heinrich Vogeler hat zwischen 1924 und 1934 fünfzehn von ihm so genannte »Komplexbilder« geschaffen. Sieben davon sind erhalten. Die restlichen sind verschollen oder wurden nach 1934 vom Künstler zerschnitten. Überliefert sind neben den erhaltenen Komplexbildern auch zwei nicht ausgeführte Aquarell-Entwürfe.
Bei den Komplexbildern handelt es sich um Simultankompositionen, die verschiedene Szenen innerhalb eines Bildes vereinigen. Die Bildfläche ist – wie schon vorher im Kubismus oder bei den italienischen Futuristen – in zahlreiche, oft prismatische Einzelfelder aufgesprengt. In den Einzelfeldern – teilweise auch sie überschneidend – findet sich bei Vogeler die realistische Darstellung verschiedenster Wirklichkeitsausschnitte in vielfältig variierter Perspektive. Schriftzeilen können in die Kompositionen einbezogen sein. Den Zusammenhang stiftet jeweils ein bestimmtes Thema – etwa der Aufbau in einer Sowjetrepublik -, auf das sich alle Einzelszenen beziehen.
Der Aufbau der Komplexbilder verändert sich im Laufe der Jahre. Bis 1927 wird die Struktur der Bilder mit Sowjet-Inhalten oft von einem überdimensional ins Zentrum gesetzten Emblem wie Sowjetstern oder Hammer und Sichel bestimmt. Von diesem Emblem geht die Gliederung der Bildfläche in die oft prismatischen Segmente aus. Nach 1927 verschwinden die übergeordneten Embleme, zugleich tritt die strenge Abgrenzung der Einzelszenen mehr und mehr zugunsten gleitender Übergänge zurück.
Vogeler glaubt mit der Technik der Komplexbilder ein formales Prinzip gefunden zu haben, das sich aus den neuen sozialen Strukturen und Prozessen in der Sowjetunion ergibt und diese zugleich zum Ausdruck bringt. Die Besonderheit – so Vogeler – »der in der Sowjetunion entstehenden sozialistischen Kultur« ist »der synthetische Charakter«, das nicht nach kapitalistischer Manier auf Konkurrenz, sondern auf ein organisches Zusammenwirken abzielende »Verhältnis der Triebkräfte des sozialistischen Aufbaus« zueinander. Zur Darstellung dieses neuen gesellschaftlichen Zusammenwirkens sich unterstützender und ergänzender Kräfte »musste eine solche Form erfunden werden«, die – eben als Form – dazu beiträgt, dass »die Zuschauer die Dialektik der Ereignisse zu verstehen beginnen« (Vogeler in der Zeitschrift, »Iskusstvo«, Moskau).
Die Komplexbilder waren als Entwürfe für großformatige Wandgemälde gedacht, zu deren Realisierung Vogeler jedoch keine Gelegenheit hatte. Ihre stärkste Wirkung dürften die Bilder 1924 bis 1928 in Vogelers Vorträgen über Sowjetrussland und die Rote Hilfe entfaltet haben. Ab 1927 waren in diesen Veranstaltungen meist nicht mehr die Komplexbilder selbst zu sehen, sondern bis drei Meter hohe Projektionen von Negativ-Dias, die der Künstler mit der Hand koloriert hat.
Nach Vogelers Übersiedlung in die Sowjetunion (1931) werden seine Komplexbilder dort ab 1935 wegen ihres ‘Formalismus’ öffentlich gerügt und nicht mehr ausgestellt. Sie widersprechen der künstlerischen Doktrin eines volkstümlichen, wirklichkeitsnahen, den Massen unmittelbar verständlichen Sozialistischen Realismus. Im Zuge dieses Vorgangs geht Vogeler aber auch auf, dass seinen Montagebildern noch ein anderer Makel anhaftet als ihr verpönter ‘Formalismus’. Ihre kristalline Flächenstruktur zitiert seinen ‘Expressionismus’ der Nachkriegsphase und ist (auch) ein Relikt seiner damaligen quasi-religiösen, ‘kosmischen’ Weltanschauung. Er hat also mit seinen Komplexbildern »noch nicht ideologisch klar geschieden« (undatierte Aufzeichnung), so dass die Aufgabe dieser Technik (1935) auch auf einem Prozess der Selbstverständigung beruht.
Text: Bernd Stenzig