Heinrich Vogelers Expressionismus – Theorie
Heinrich Vogeler hat vom Ende des Ersten Weltkriegs im November 1918 bis zu seinem ersten Aufbruch nach Sowjetrussland im Juni 1923 dreizehn Broschüren, etwa sechzig Beiträge in Zeitschriften und Sammelwerken und an die dreißig Presseartikel veröffentlicht. Das thematische Spektrum ist weit gespannt, jedoch bilden die Mitte aller Ausführungen zwei ideelle Annahmen, auf denen alles Weitere beruht.
Die erste Annahme ist das kosmische
(alles umfassende) Urgesetz tätiger Nächstenliebe. Mensch und Naturphänomene tragen die tätige Nächstenliebe, die auch Expressionismus der Liebe
, werktätige Liebe
, Liebestat
, sozialistische Tat
, gegenseitige Hilfe
heißt, als ihr eigentliches Wesen in sich. Mit dem kosmischen
Urgesetz tätiger Nächstenliebe ist nicht nur das ideale Einzelwesen vorgegeben, sondern auch die ideale Gemeinschaft. Denn wenn die Einzelwesen aus dem kosmischen
Urgesetz tätiger Nächstenliebe handeln, begründet dies eine Gemeinschaft einander Liebender, sich gegenseitig Helfender.
Die zweite Annahme besteht im kosmischen Werden
. Diese übernatürliche Kraft bewirkt, dass Mensch und Naturphänomene auch tatsächlich zu ihrer Erfüllung und Vollendung im kosmischen
Urgesetz tätiger Nächstenliebe finden. Das kosmische Werden
bringt das wahre Wesen von Mensch und Naturphänomenen hervor und damit auch die ideale Gemeinschaft einander Liebender, sich gegenseitig Helfender.
Tragen der Mensch und alle Naturphänomene nach Vogelers Lehre das kosmische Urgesetz
werktätiger Liebe in sich und sind sie gleichermaßen dem kosmischen Werden
unterstellt, das ihr wahres Wesen an den Tag bringt, so kann der Mensch doch von seiner Bestimmung abirren. Der Mensch kann, verführt durch den spekulativen Verstand, dem Streben nach Macht und Besitz verfallen. In historischen Phasen, in denen die Macht- und Besitzgier die Oberhand gewinnt, greift das letztlich den Lauf der Welt bestimmende kosmische Werden
ein. Das kosmische Werden
steigert die Jagd nach Expansion und Profiten und die daraus entstehenden Konflikte derart, dass die Menschheit an den Rand der Selbstvernichtung gerät und über das höchste Leid zur werktätigen Liebe zurückfindet.
Den gerade beendete Ersten Weltkrieg deutet Vogeler als eine vom kosmischen Werden
inszenierte Radikalkur. Der Krieg war zwar Menschenwerk, jedoch waren die Menschen dabei letztlich nur Werkzeuge des kosmischen Werdens
. Die Vorkriegszeit war vom Urgesetz tätiger Nächstenliebe abgewichen, was Vogeler mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verbindet, denn der Kapitalismus gehe einher mit Gier, Ausbeutung und Unterdrückung. Das kosmische
Geschehen Weltkrieg habe den Menschen eine Lektion erteilen müssen: Im Kosmos ist der Weltkrieg lediglich einer von den Verbrennungsprozessen, den [sic] die Natur immer wieder gebraucht zum Aufbau eines bejahenden Menschentums, der Erfüllung Mensch durch das ewige Gesetz der Liebe
(HV: Kosmisches Werden, 1921, 3 f.). Jetzt sei der Weg bereitet für den brüderlichen Neuen Menschen und das ideale Neue Leben.
Mit der Abfolge schlechtes Altes – Martyrium Weltkrieg – gutes Neues greift Vogeler den Dreischritt Gegenwart – Katastrophe – Paradies
auf (Sylvia Schlenstedt), der typisch für den literarischen Expressionismus ist (u.a. Johannes R. Becher, Paul Zech). Eine nichtswürdige alte Welt fällt einem katastrophalen Strafgericht anheim, aus dem ein geläuterter Neuer Mensch und eine Neue Welt hervorgehen. Dabei beruht – wie bei Vogeler – die Darstellung des Strafgerichts oft auf oft Bildern und Motiven aus der biblischen Apokalypse.
Eine der Besonderheiten beim Expressionisten Vogeler besteht nun darin, dass bei ihm das ideale Neue konkretisiert wird. Er gelangt, angelehnt besonders an die französischen Frühsozialisten und an Kropotkin, zu einem ein bis in viele Einzelheiten durchdachten rätekommunistischen Gesellschaftsmodell, das von einem einzigen Punkt ausgehend – dem kosmischen
Gesetz werktätiger Liebe – alle Bereiche des politischen und sozialen Lebens neu ordnet. Die Organisation der Produktion, die Verteilung der Güter und des Arbeitsertrags, die Lebensbedingungen und die Sozialbeziehungen der Menschen und nicht zuletzt die Kunst sollen aus dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe hervorgehen. Organisatorische Basis des Modells ist die regionale, durch einen jederzeit abrufbaren Rat verwaltete Kommune, wie sie Vogeler 1919 bis 1923 mit der Arbeitsgemeinschaft auf seinem Worpsweder Barkenhoff exemplarisch zu realisieren sucht.
Dabei verschieben sich ab Ende 1919 die Akzente. Man kann darin eine Reaktion auf die Erkenntnis sehen, dass der Weltkrieg das Werk der Läuterung doch nicht vollendet hat und sich der Kapitalismus doch nicht erledigt hat. Die erste Akzentverschiebung betrifft den Erziehungssektor. Dem Mangel an Brüderlichkeit soll die Schule entgegenwirken. Fester Bestandteil von Vogelers Kommune-Modell (und der Kommune-Praxis auf dem Barkenhoff ) ist jetzt eine Arbeitsschule, die den Kindern über die Lösung alltäglicher Aufgaben zugleich praktische Fertigkeiten, theoretische Kenntnisse und jenen Geist der Brüderlichkeit vermitteln soll, den der Weltkrieg nicht erbracht hat.
Andererseits kann ab Mitte 1920 die konkrete Außenwelt auch fast völlig in den Hintergrund treten zugunsten von Ausführungen zum kosmischen Werden
, das in letzter Instanz doch stets und überall den Lauf der Dinge bestimmt haben soll. Auf der Suche nach historischen Gemeinschaften aus dem Geiste gegenseitiger Hilfe gelangt Vogeler nach ausgiebiger Befassung mit der Gotik und den gotischen Brüderschaften 1922/23 noch zu den alten Germanen. In eigenwilligen Auslegungen werden die Welt der germanischen Vorväter und das altgermanische Recht als historische Zeugen für die Räteordnung, die Gemeinwirtschaft und die Hingabe des Einzelnen an das Ganze herangezogen und als Vorverkörperung jenes Kommunismus aufgefasst, der in Sowjetussland den Kapitalismus abgelöst hat. Ablesbar werde diese historische Korrespondenz von Germanentum und Sowjetkommunismus daran, dass Zeichen und Symbole – nicht nur – aus germanischer Zeit, die eine ideale gemeinwirtschaftliche Ordnung vertreten, im Emblem des Kommunismus wieder an die Oberfläche träten. Hammer und Sichel auf roter Fahne – sie ließen den Hammer Thors, die Sichel Friggas und die rote Fahne Baldurs neu erstehen (vgl. u.a. HV: Symbole der Zeit, 1923, S. 22). Weit ausgreifend bei der Suche nach anderen alten Völkern und deren Symbolen, die eine ideale Ordnung vertreten und in der Gegenwart wieder erscheinen, wird Vogeler unter anderem noch in der Bibel und bei den alten Ägyptern, Phöniziern und Chinesen fündig.
Es ist eingangs gesagt worden, dass sowohl der Mensch als auch die Naturphänomene das kosmische
Urgesetz tätiger Nächstenliebe in sich tragen, wenn der Mensch auch zwischenzeitlich davon abirren kann. Vogeler lässt es nicht dabei bewenden, pauschal eine solche Einheit anzunehmen. Er wendet sich auch einzelnen Naturphänomenen zu, die wie der Mensch dem Gesetz gegenseitiger Hilfe unterstellt seien und dies in der Gemeinschaft offenbarten. Als Inbegriff und prägnantestes Beispiel führt er die Druse an, das Kristallnest im Gestein. Schon das einzelne Kristall zeige den gestaltenden Willen zur Gemeinschaft
, in der Druse seien die Kristalle alle vereint zu einem gesellschaftlichen Prozeß der gegenseitigen Hilfe und Stütze, zu einem statischen Aufbau
(HV: Friede, 1922, S.12).
An dieser Stelle der Argumentation kommt der expressionistische Künstler ins Spiel. Wenn jeder Mensch auf seinem Gebiet Expressionist der Liebe sein und damit sein Eins-Sein mit dem kosmischen
Urgesetz werktätiger Liebe manifestieren kann, so gilt das auch für den expressionistischen Künstler. Er bedient sich dabei nur eines besonderen Werkzeugs beim Ausdruck seiner Harmonie mit dem Unendlichen – der Sprache der Kunst, im Fall des expressionistischen Malers, den Vogeler in erster Linie vor Augen hat: der Sprache des Bildes.
Was das konkrete expressionistische Bild betrifft, so findet das künstlerische Eins-Sein mit dem Urgesetz werktätiger Liebe Niederschlag in dessen Formenrhythmen
, in seiner Flächengliederung (HV: Expressionismus, 1920, S. 8 f.). Nicht eigentlich von Belang ist dagegen das Sujet des Bildes, der dargestellte Gegenstand.
Die einfachste, ursprünglichste und stärkste rhythmische Kraft aber ist das Kristall. Im Kristall – und im Kristallnest – ist das kosmische Werden
am elementarsten aufgehoben. In der Kunstgeschichte findet Vogeler das Kristall als Zeichen des Gesetzes werktätiger Liebe vor allem in der Gotik. Die gotischen Baumeister hätten mit den gotischen Domen reine Kristalle
und damit die stärksten expressionistischen Symbole der Liebe
geschaffen (HV: Expressionismus der Liebe, 1918, S. 2).
In der Vorgeschichte der zeitgenössischen expressionistischen Kunst sei der Kubismus die wichtigste Durchgangsstufe zum Expressionismus gewesen. Vogeler ist an der veränderten Realitätserfassung des (analytischen) Kubismus vollkommen desinteressiert, ihm ist es einzig um die formale Konsequenz zu tun, dass mit der Auffaltung der Gegenstände zu geometrischen Strukturen Prismenformen als Bausteine der Flächenarchitektur gewonnen werden. Dieser Flächenarchitektur schreibt er eine autonome Bedeutung zu. Das Kristalline ist nicht der formale Niederschlag des Inhalts, sondern schon der eigentliche Bildinhalt selbst. Es repräsentiert das kosmische
Gesetz tätiger Nächstenliebe und das künstlerische Eins-Sein mit diesem Gesetz.
Denkbar prägnant findet sich das Kristalline als Zeichen menschlicher Erfüllung in Vogelers Umschlagbild zu Hermann Schüttes Traktat Die zehn Gebote
(1920), das eine Ansammlung von Kristallen zeigt, dazu noch ein strahlender Sonnen-Kreis mit fünf funkelnden kleinen Sternen darunter. In der Mitte des Blattes findet sich zusätzlich ein Dreieck, an dessen Rändern die Worte Gott
, Mensch
und Ich
stehen. Ist die Druse an sich schon Sinnbild für die radikale Nächstenliebe und das Eins-Sein des Menschen mit diesem Göttlichen, so bestätigt und wiederholt die Wort-Dreiheit aus Gott
, Mensch
und Ich
diese Aussage.
Wenn Vogeler das Kristall als Träger religiöser Bedeutungen sakral überhöht, steht er in seiner Zeit keineswegs allein da. Wie schon sein Geschichtsmodell – die Abfolge von schlechter Gegenwart, Katastrophe und Paradies – im literarischen Expressionismus zahlreich vertreten ist, so ist auch seine Auffassung des Kristallinen als Zeichen dessen, was hinter allen Erscheinungen stecken soll, in der expressionistischen Kunst alles andere als ein vereinzeltes Phänomen. Wir finden das Kristalline als Vertretung eines Göttlichen und Jenseitigen unter anderem bei Bruno Taut, Klee und Feininger. Mehr noch. Aus Feiningers bekanntem Holzschnitt Kathedrale des Sozialismus
(1919) spricht exakt jene Trias aus Kristall, Transzendenz und Gotik, die Vogeler in seinen Schriften vor Augen hat.
Feininger Kathedrale versteht sich als kristallines Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens
(Bauhaus-Manifest 1919). Das Wort vom neuen kommenden Glauben
ist bezeichnend für das Unscharfe und die Beliebigkeit
dessen, was das kristalline Sinnbild
im Expressionismus vertritt (Regine Prange). Der Nachdruck, mit dem der Expressionismus das Kristall als Träger weltanschaulicher Bedeutungen heranzieht, steht in auffälligem Gegensatz zur durchweg geringen inhaltlichen Konkretisierung dieser weltanschaulichen Bedeutungen. Anders bei Vogeler. Bei ihm vertritt das Kristall sehr bestimmte transzendentale Bedeutungen – eben das kosmische
Gesetz werktätiger Liebe.
Ein bemerkenswerter Befund: Vogelers Vorstellungen in den Schriften der Jahre 1918 bis 1923 galten schon damals als schwer zugänglich und verstiegen. Essenzen herauszufiltern ist nicht leicht. Aber die Bilanz kann doch insofern überraschen, als das Geschichtsmodell, die Utopie eines ganz anderen Neuen Lebens und die Ästhetik des abseits vor sich hin brütenden Worpsweders sehr wohl im zeitgenössischen Kontext zu verorten sind und dort sogar ein nicht übliches Maß an Greifbarkeit und Bestimmtheit aufweisen.
Heinrich Vogelers Expressionismus – Kunstpraxis
Ein Pendant zur Umschlagzeichnung von Hermann Schüttes Die zehn Gebote
ist das Titelbild zu Vogelers Broschüre Kosmisches Werden und menschliche Erfüllung
(1921), nur mit dem Unterschied, dass hier nicht schon der Umschlag, sondern erst der Text der Broschüre das ideale Eins-Sein von Gott (tätige Nächstenliebe), Erfüllung Mensch (tätige Nächstenliebe), Erfüllung Ich (tätige Nächstenliebe) sprachlich formuliert. Die Titelzeichnung zeigt eine Druse, die alle wesentlichen Strukturmuster enthält, die als formale Neuerungen auch Eingang in große Arbeiten finden können: Eine Ansammlung nach oben strahlender Einzelkristalle, in deren Mitte ein daraus hervorbrechender kugelförmiger, ebenfalls nach oben strahlender Körper, den man als aufgehende Sonne und beginnende Morgenröte einer neuen Zeit
auffassen darf (HV: Friede, 1922, S. 17), dann noch wolkenförmige Ablagerungen unter den Kristallen und abermals darunter – am Rand der Druse – kräftige Kreisbögen.
Der Durchbruch zum Kristallinen ist schon vor dem Kriege erfolgt, vor allem mit der Zeichnung Vision
(1914), die Vogeler rückblickend als den künstlerischen Abschied von der Romantik
seiner Frühzeit begriffen hat. Den aus prismatischen Grundformen gebildeten Schauplatz umgibt eine figürliche Szene, in der eine von oben kommende große Hand den Kopf einer knienden jungen Frau berührt. Vor ihr liegt ein eben geborenes Kind. Weiter hinten schleppt sich unter der Last des Kreuzes eine Christusfigur davon.Vision
trägt mit dem sich davon bewegenden Heiland, der in Vogelers Frühwerk – neben anderen Traditions-Zitaten – sein Lebensideal einer eigenen Sphäre des Heils veranschaulicht hat, die alten Illusionen zu Grabe und inszeniert die Geburt eines Neuen, ohne dessen Beschaffenheit zu konkretisieren. Das Blatt nimmt noch nicht Vogelers Weltanschauung und Ästhetik der Nachkriegsphase vorweg. Gleichwohl gibt es Berührungspunkte. Wo später das übernatürliche kosmische Werden
die Wende erbringt, gebiert hier ebenfalls – ein allerdings noch anonym bleibender – Eingriff von oben das Neue.
Der Krieg bricht den Bann des Privaten. Prägnantesten künstlerischen Ausdruck findet die Weltanschauung und Ästhetik der Nachkriegsjahre bereits 1918 in der Radierung Die sieben Schalen des Zorns
(1918), mit der Vogeler nahezu unvermittelt und in ausgereifter Manier die expressiveren Gestaltungsmittel der damals aktuellen Kunst zur Hand hat. Das Blatt zitiert in seiner Vielszenigkeit den Futurismus, mit dem Verstoß gegen die natürlichen Maßverhältnisse und mit der kristallinen Flächengliederung den Expressionismus und Kubismus.
Die sieben Schalen des Zorns
verbinden Kriegseindrücke des Malers mit einem bekannten Motiv aus der biblischen Apokalypse. Das untere Drittel des Blattes zeigt ineinander verschachtelt und in vielfältig variierter Perspektive die Heimsuchungen des Krieges. Darüber und bis an den oberen Blattrand steigen Lichtkegel auf, die einander so überblenden und durchschneiden, dass sich eine prismenförmige Flächengliederung ergibt. Die Spitzen der Lichtkegel enden in den sieben Schalen der Apokalypse (Offenbarung Johannes 16), die hier von sieben Frauengestalten ausgegossen werden. Damit ist den Lichtkegeln eine doppelte Bedeutung eigen. Sie steigen als Menschenwerk auf, als der Schein von Leuchtraketen, letztlich aber bezeichnen sie die Bahn dessen, was sich als Zorn Gottes über eine sündige Menschheit ergießt. Bezogen auf den expressionistischen Dreischritt schlechtes Altes – Katastrophe – Paradies verweilt Vogelers Blatt beim zweiten Schritt, bei der Katastrophe.
Vogelers bildkünstlerisches Werk der Jahre 1918 bis 1923 geht in der Entsprechung von Theorie und Kunstpraxis nicht auf. Von den in dieser Spanne entstandenen rund fünfzig Ölbildern lässt sich nur ein gutes Dutzend seiner expressionistischen Programmatik zuordnen. Bei der Graphik sind die Verhältnisse quantitativ ähnlich. Dort finden wir Vogelers expressionistische Ästhetik vornehmlich in Nebenarbeiten wie einigen Exlibris und Initialen, dann noch in zwei überlieferten Plakaten und – am offenkundigsten und ästhetisch anspruchsvollsten – in der Radierung Werden
(1921).
In den beiden Plakaten findet Vogelers weltanschaulich-ästhetische Orientierung dieser Phase sehr unterschiedlichen Ausdruck. Die mit ‘Was wollen die Syndikalisten? Die Vernichtung des Götzen Mammon!’ überschriebene Titelzeichnung (Zeitschriften-Titel 1919, mehrfarbiges Plakat 1922) steht dem Kristallinen vollkommen fern. Dagegen wird Vogelers Vorstellung von einer ‘kosmisch’ inszenierten Radikalkur, die eine vom Gebot radikaler Nächstenliebe abgeirrte Menschheit zur Vernunft bringt, besonders anschaulich gezeigt. Wieder ist es – wie vor dem Krieg in ‘Vision’ (1914) – im Wortsinne ein Eingriff von oben, der aber nun nicht mehr dem privaten Heinrich Vogeler gilt, sondern den Lauf der Welt korrigieren und den Mordreigen rings um das Goldene Kalb beenden soll.
Mit seinen Plakaten sucht Vogeler Wirkung beim Volk. In der Tat versteht wohl jeder, wie der Künstler sich die Vernichtung des Götzen Mammon vorstellt. Dass hinter dieser Vorstellung eine den Massen keineswegs vertraute kosmische
Lehre steht, tut dem Verständnis keinen Abbruch.
Auch das zweite uns bekannte Plakat hat vordergründig eine leicht fassbare Botschaft, deren Vermittlung hier Sache der Schrift ist. Die Wende wird von der regionalen Bevölkerung erwartet. Das Plakat Konsumenten! Vereinigt euch in der Konsumgenossenschaft Vorwärts-Bremen
(um 1920) wirbt für einen solchen Zusammenschluss damit, dass die Konsumgenossenschaften ein wichtiger Faktor auf dem Wege zum Socialismus, zur Gemeinwirtschaft
sind. Der Text ist in eine Szene hineingesetzt, in der eine von hinten gesehene Figur sich anschickt, über eine Treppe in einen aus kristallartigen Gebilden sich auftürmenden Berg zu steigen. Anders als beim Plakat zur Vernichtung des Götzen Mammon greift Vogeler hier also auf seine expressionistischen Gestaltungsmittel zurück. Aber abermals ist die Aussage direkt zugänglich. Man muss kein Kenner von Vogelers Lehre sein, um die Botschaft des Plakats verstehen zu können.
Das visionäre Blatt Werden
(1921) führt wieder zurück zum Dreischritt schlechtes Altes – Katastrophe – Paradies und zu biblisch-apokalyptischen Motiven. Das Entstehen einer neuen Welt, mit der die biblische Offenbarung schließt, wird in der Bildmitte verkörpert durch die groß nach vorn gerückte, wie aus der Vegetation emporwachsende nackte Frauengestalt, vor deren Schoß ein eben geborenes Kind liegt. Mit der Mutter-Kind-Darstellung greift die Radierung auf die Geburt Jesu in der Vision des Johannes zurück, das Werden
wird also religiös überhöht und als übernatürlich bewirktes, kosmisches
Heilsgeschehen ausgegeben. Wo in der Offenbarung die Mutter des Heilands nur mit der Sonne bekleidet – also ohne Kleidung – und mit einem Kranz von Sternen auf dem Haupt erscheint, zeigt Vogeler eine ebenfalls unbekleidete Mutter mit einem Ball von – sich im Augenpaar wiederholenden – Sternen auf dem Kopf (vgl. Offenbarung 12, 1).
Von dem guten Dutzend Ölbilder der Spanne 1918 bis 1923, die sich Vogelers expressionistischer Programmatik zurechnen lassen, entsteht der weit überwiegende Teil in den Jahren 1918 und 1919. Es sind Frauen, es sind leidende, trauernde Frauen, es sind der neuen Zeit entgegenstrebende weibliche Gestalten, es sind Licht bringende, zur Sonne empor sich reckende junge Frauen, die diese Darstellungen bestimmen. Die Hauptbestandteile der neuen Bildrhythmik, die Kristallformen und die Zyklen, werden dabei – verglichen mit den Radierungen – zurückhaltender eingesetzt.
Wenn Vogeler in seinen Bildern die Untergangs- und Neugeburtsthematik mit dem Weiblichen verbindet, dann entspricht dies dem Frauenverständnis in seinen Schriften. Darin steht die Frau der Natur und dem Urgesetz werktätiger Liebe näher als der Mann. Einem derartigen uralten Verständnis der Frau als einem vom historisch-gesellschaftlichen Prozess und seinen Entartungen unzerstörten, den wahren, liebenden ursprünglichen
Menschen repräsentierenden Naturwesen ist meist eine deutliche strategische Ambivalenz eingeschrieben. Denn in ihr steckt neben der Idealisierung der Frau in der Regel zugleich auch eine Abwertung insofern, als dem Naturwesen Frau abgesprochen wird, überhaupt eine Rolle im historisch-gesellschaftlichen Prozess gespielt zu haben – und künftig spielen zu können – , wenn sie nicht ihr ursprüngliches
Menschsein opfern will. Solche Ambivalenz findet sich in Vogelers Schriften nicht. Der Geist werktätiger Liebe, der sich bei den Frauen erhalten hat, prädestiniere sie im Gegenteil zur Führerschaft auf dem Wege zur Friedensgemeinschaft.
Dass in den bildkünstlerischen Inszenierungen der Zeitenwende anhand weiblicher Figuren nichts zu finden ist vom aktiven Wirken, das den Frauen zugedacht ist, ist bezeichnend für den unterschiedlichen Grad an Artikuliertheit in Vogelers Schriften einerseits und seinen expressionistischen Bildern andererseits. Die Bilder tragen nichts bei zu den weltanschaulich-politischen Vorstellungen, sie illustrieren sie auch nicht, sondern werfen ihnen eine expressionistische Verkleidung
(A. Hart, 1940) über, die die konkreten Perspektiven in einer tradierten Symbolik verschwinden lässt.
Aber wenn der Schriftsteller Vogeler seine Sicht der Zeitenwende ungleich differenzierter und realitätsnäher vergegenwärtigt als der bildende Künstler, so wird man darin nicht allein eine Frage seiner Grenzen als Maler sehen dürfen. Es scheint, dass eine auf einem weltanschaulich-politischen Programm fußende Kunst erst dort möglich und verständlich wird, wo beim Betrachter ein gewisses Vorwissen im Hinblick auf dieses Programm unterstellt werden kann. Mit einem solchen Vorwissen wird Vogeler später bei seinen parteikommunistischen Arbeiten rechnen können und damit die Sorge los sein, die Betrachter seiner Bilder erst einmal über die Sache aufklären zu müssen, für die diese Bilder einstehen.
Vogelers bildkünstlerischer Expressionismus klingt fast schon aus mit dem großformatigen, angestrengt symbolischen Gemälde Die Geburt des Neuen Menschen
(1923), das bald nach seiner ersten Ankunft in Moskau entsteht. Die Geburt des Neuen Menschen
bezieht die ersten beglückenden Erfahrungen des Künstlers in Sowjetrussland auf eine – auch in seinen schriftlichen Verlautbarungen – noch ungebrochen kosmische
Weltanschauung und auf die expressionistische Abfolge von Untergang und Neugeburt. Rings um die zentrale Frauengestalt mit dem kleinen Kind ist der Moskauer Rote Platz mit der Basilius-Kathedrale und dem davor gelegenen Richtplatz aus zaristischer Zeit angedeutet. Die roten Fahnen auf den zwei seitlichen kegelförmigen Bauwerken beseitigen dann jeden Zweifel, dass die Geburt des Neuen Menschen nun mit der Umwälzung in Sowjetrussland assoziiert wird – ein Sowjetrussland, das aber völlig entgegen der marxistischen Auffassung als Erfüllung des kosmischen Werdens
ausgegeben wird. Denn an den unteren seitlichen Bildrändern versammelt Vogeler so ziemlich alle Zeichen und Symbole, die in seinen Schriften von 1922/23 für solche Gesellschaftsformationen bis zurück zum Alten Testament und zu den Germanen einstehen, in denen schon einmal das kosmische Werden
eine ideale Ordnung herbeigeführt hat und die im kommunistischen Emblem Hammer, Sichel und rote Fahne neu erstanden sein sollen. Wir finden links unten um den Stern herum den Hammer Thors, die germanischen Runen Thurisaz und Fehu und das Hakenkreuz, rechts unten den Davidstern und weitere Zeichen, die diffuser auf die Runenschrift Bezug nehmen. Ganz aus der Winkelschrift der Germanen hergeleitet ist die völlig bogenlose Zeichnung der beiden maskenhaften Gesichter an den beiden Bildkanten unten links und rechts.
Anfang 1924 erfolgt in Moskau Vogelers Hinwendung zum Marxismus, spätestens 1925 ist er Mitglied der KPD. Das ist kein völliger Bruch mit seiner bisherigen Weltanschauung. Zwar schließt der Marxismus die Existenz übernatürlicher kosmischer
Mächte aus. Aber Vogelers Kosmologie gestattet noch am ehesten ein Überwechseln, weil zwei Bausteine in beiden Lehren identisch sind: die gegenseitige Hilfe, die Hingabe an die Gemeinschaft als höchstes Gut und das Endziel einer globalen Friedensgemeinschaft. Was die Kunst betrifft, so macht Vogeler sich die marxistische Anschauung zu eigen, dass jede welthistorisch neue Epoche auch eine neue Formensprache hervorbringt und so auch die neuen sozialistischen Realitäten in Sowjetrussland Niederschlag in neuen künstlerischen Formen finden müssen. Als eine solche neue Sowjetkunst lässt er nicht gelten, was er in Russland zur Norm werden sieht – eine Neuauflage bürgerlicher Kunsttechniken des 19. Jahrhunderts bei bloßem Austausch der dargestellten Gegenstände.
Er selbst hingegen glaubt, mit der – mehr oder weniger ausgeprägten – kristallinen Flächengliederung seiner ab 1924 entstehenden Komplexbilder ein formales Prinzip gefunden zu haben, das sich aus den neuen sozialen Strukturen und Prozessen in der Sowjetunion ergeben hat und ihnen entspricht. Die Besonderheit – so Vogeler – der in der Sowjetunion entstehenden sozialistischen Kultur
ist der synthetische Charakter
, das nicht nach kapitalistischer Manier auf Konkurrenz, sondern auf ein organisches Zusammenwirken abzielende Verhältnis der Triebkräfte des sozialistischen Aufbaus
zueinander. Zur Darstellung dieses neuen Zusammenwirkens der gesellschaftlichen Kräfte musste eine solche Form erfunden werden
, die – eben als Form – dazu beiträgt, dass die Betrachter die Dialektik der Ereignisse zu verstehen beginnen
(Vogeler 1936 in der Zeitschrift, Iskusstvo
, Moskau). Die wechselnden Themen der vielszenigen Komplexbilder konkretisieren also lediglich ein organisches Zusammenwirken, das ihre Form immer schon ausdrückt. Vogelers frühes Komplexbild Winterkommando der Arbeiterstudenten auf ein Sowjetgut
(1924) realisiert die Aufsprengung der Bildfläche in prismatische Segmente besonders konsequent. Die kristalline Flächengliederung ordnet die Einzelszenen als einander stützende und sich ergänzende Teile eines Ganzen an.
1935/36 sind der Sozialistische Realismus mit seiner Forderung nach Volkstümlichkeit, unmittelbarer Verständlichkeit und mitreißender Parteilichkeit zur künstlerischen Doktrin geworden. Die Technik der Komplexbilder ist nicht mehr genehm, Vogeler wird Formalismus
vorgeworfen, ein Spiel mit Formen, die gerade nicht aus den Inhalten hervorgingen. Die Wirklichkeitsausschnitte seien lediglich mechanisch addiert, die Dialektik der Prozesse sei auf diese Weise still gestellt. Außerdem sprächen die Bilder nicht aus sich heraus, sie wären nicht zu verstehen, wenn sie nicht mit literarischen Bandwurmerklärungen
versehen würden. Aber bei der Kritik von außen bleibt es nicht. Vogeler selbst geht auf, dass die kristalline Flächengliederung seiner Komplexbilder gar nicht aus den sozialistischen Realitäten hervorgegangen und daran gebunden ist.
So spiegelt sein Komplexbild-Entwurf Das Dritte Reich
(1934) Nazi-Deutschland formal so wider, wie es den sozialistischen Realitäten entsprechen und vorbehalten sein soll. Vogeler ist – mit seinen eigenen Worten – an expressionistischen Formen hängen
geblieben ist (HV: Erfahrungen eines Malers, 1938, S. 91) und erkennt, dass er in seiner Kunst ideologisch noch nicht klar geschieden
hat zwischen seinen alten und seinen neuen Arbeiten
(HV: Notizheft 1936). Denn der prismatische Bildaufbau zitiert seine Ideologie der Nachkriegsjahre, wo das Kristallnest Sinnbild für das kosmische
Urgebot radikaler Nächstenliebe war. Was neu aus den sozialistischen Realitäten hervorgegangen und nur ihnen adäquat sein soll, ist in Wahrheit ein Relikt des quasi religiösen Expressionismus der Jahre 1918 bis 1923.
1936 gibt er die Technik der Komplexbilder auf, sie können für ihn keine Angelegenheit der Diskussion mehr sein
(ebd.). Fortan versucht er, den Postulaten des Sozialistischen Realismus zu folgen und gleichwohl Wege zu einer neuen Sowjetkunst zu finden. Das kommt besser an. Am Schluss jenes Aufsatzes in der Zeitschrift Iskusstvo
, in dem er seine Komplexbilder als eine dem synthetischen Charakter des sozialistischen Aufbaus adäquate Darstellungsform beschreibt, heißt es in einer redaktionellen Nachschrift, dass er der Jury der Ausstellung Industrie des Sozialismus
inzwischen Skizzen vorgelegt habe, aus denen eine zweifellose Bestätigung seiner realistischen Stellung hervorgehe (1936). Einen Eindruck vermittelt das für die Ausstellung bestimmte Ölbild Holzverladung
(1936).
Heinrich Vogeler hat das nicht gereicht. Er selbst ist am Ende nicht zufrieden mit sich. Bei einer Art von Reportertätigkeit
(HV an Alexej Tolstoi 1941) ist schließlich geblieben, was eine neue Sowjetkunst werden und einem neuen Zeitalter ein gültiges künstlerisches Denkmal setzen sollte.
Bernd Stenzig, April 2018